Skip to main content
24. Oktober 2024

„KRIEGSTÜCHTIG?“ (von Lioba Meyer)

MUSS PISTORIUS SICH KORRIGIEREN?

Sprache ist verräterisch. Ende Oktober 2023 erklärte Bundesverteidigungsminister Pistorius: „Wir brauchen einen Mentalitätswechsel (…) Wir brauchen ihn in der gesamten Gesellschaft (…) Wir müssen kriegstüchtig werden.“ Und er fordert Kriegstüchtigkeit als Handlungsmaxime für die Bundeswehr. Diese Forderungen können nicht unwidersprochen hingenommen werden. Sie sind geschichtslos und gefährlich. Sie bergen die Gefahr, dass kriegsverherrlichende Rhetorik wieder salonfähig wird.

Boris Pistorius war in den Jahren 2006 bis 2013 Oberbürgermeister von Osnabrück, einer Stadt, die im Jahr 2023 den 375. Jahrestag des Westfälischen Friedens beging. Der Friedensvertrag von 1648, der den grausamen Dreißigjährigen Krieg beendete, sollte jedem Oberbürgermeister Osnabrücks eine Verpflichtung sein. Darin heißt es: „Es sollen alle mit Worten, Schriften oder Taten zugefügten Beleidigungen (und) Gewalttaten (…) gegeneinander aufgehoben sein, auf dass alles (…) immerwährendem Vergessen anheimgegeben sei.“ Dieser Friedensschluss beweist, dass dauerhafter Frieden nur mit Verhandlungen gelingen kann, nicht mit Waffen und kriegerischer Rhetorik. Deshalb gilt der Westfälische Friede in dermodernen Friedens- und Konfliktforschung bis heute als Vorbild für die Beendigung von Kriegen.

Als ehemaliger Oberbürgermeister ist Pistorius natürlich mit dem Werk und Leben des ebenfalls aus Osnabrück stammenden Schriftstellers Erich Maria Remarque vertraut und sollte dessen Warnung vor den Gefahren von Kriegsbegeisterung kennen. Remarque warnt: „Krieg ist zu allen Zeiten ein brutales Werkzeug der Ruhmgier und Macht gewesen.“ Für Remarque wäre eine Tüchtigkeit zum Krieg undenkbar gewesen.

In seinem Antikriegsroman „Im Westen nichts Neues“ schildert Remarque, wie junge Menschen durch Kriegspropaganda verführt werden und ihre Zukunft in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs verlieren.

Eine Schlüsselpassage dort lautet: „Wie sinnlos ist alles, was geschrieben, getan, gedacht wurde (…), wenn so etwas möglich ist, wenn die Kultur von Jahrtausenden nicht einmal verhindern konnte, dass diese Ströme von Blut fließen.“ Auch Henri Barbusse, französischer Pazifist und Autor des Kriegstagebuchs „Le Feu“ von 1916, Vorbild von „Im Westen nichts Neues“, fordert: „Man muss den Geist des Krieges in den Köpfen töten.“ Denn Krieg beginnt im Denken.

Angesichts des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine appellierten Prominente aus Osnabrück im Februar in einemBrief an den Verteidigungsminister, „alles Mögliche zu tun, um Wege und Perspektiven für Verhandlungen und für einen Frieden zu eröffnen“ Sie argumentierten, dass eine eindimensionale Fokussierung auf Militär und Waffen nur zur Verlängerung des Krieges führe. Pistorius schloss sich dieser Forderung öffentlich und ohne Einschränkung an. Der Terrorangriff der islamistischen Hamas auf Israel und der Krieg im Gazastreifen mit dem Leid der palästinensischen Bevölkerung unterstreichen die Dringlichkeit dieser Forderung.

Ein Blick zurück in die deutsche Nachkriegsgeschichte zeigt, dass es neben Verschweigen und Verdrängen auch eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Kriegsverherrlichung in Literatur, bildender Kunst, Film, Musik und Theater gab. Das Grundgesetz von 1949 formulierte eine klare Absage an Krieg und Kriegsrhetorik. Die Forderung der Präambel, „dem Frieden der Welt zu dienen“, bedeutete Verpflichtung zu verantwortungsvollem Handeln für den Erhalt des Friedens.

Die Forderung vo n Boris Pistorius, wir müssten „kriegstüchtig“ werden, steht im Widerspruch dazu. Er hat sich damit der Kriegslogik angeschlossen. Als Bundesverteidigungsminister ist er dem Friedensgebot des Grundgesetzes verpflichtet. Auch Sprache kann in den Köpfen Krieg vorbereiten.

Genau das meint Christa Wolf, wenn sie ihre Figur der Seherin Kassandra warnen lässt: „Wann Krieg beginnt, das kann man wissen. Aber wann beginnt der Vorkrieg? Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da? Da stünde, unter anderen Sätzen: Lasst euch nicht von den Eigenen täuschen.“

__________________________

Der Text ist unserem 52-seitigem Arbeitsheft entnommen (S. 35), das jedem Gesamtpaket und jeder Materialmappe beiliegt.

AUTORIN

LIOBA MEYER, ehemalige Osnabrücker Bürgermeisterin und Kinderbuchautorin schrieb im Februar 2023 zusammen mit vielen anderen Osnabrücker Bürger:innen einen offenen Brief an Verteidigungsminister Boris Pistorius. Er wird aufgefordert alle diplomatischen Wege und Kanäle für Friedensverhandlungen und eine baldige Beendigung des Krieges zu nutzen. Lioba Meyer war im Jahr 2023 Friedensbotin der Ökumenischen FriedensDekade

Weitere Artikel

Key-Visuals Wettbewerb zum Jahresmotto 2025 „Komm den Frieden wecken“

15. Dezember 2024
Stuttgart, 9. Dezember 2024: Der Verein Ökumenische FriedensDekade e.V. hat einen Wettbewerb für die Gestaltung des grafischen Key-Visuals zum Jahr…

Neue Serie: Geschichten der FriedensDekade 2024 – Rückblick auf eine bewegende Zeit

14. Dezember 2024
Neue Serie: Geschichten der FriedensDekade 2024 – Rückblick auf eine bewegende Zeit Die Ökumenische FriedensDekade 2024 war eine Zeit voller leben…

Ausgebucht: Schreibwerkstatt Friedensgebete 2025: Gemeinsam den Frieden wecken

14. Dezember 2024
Schreibwerkstatt für die Friedensgebete 2025 – Ausgebucht! Die Anmeldefrist für die Schreibwerkstatt zur Gestaltung der Friedensgebete 2025 ist nun…
0
    0
    Einkaufswagen
    Der Einkaufswagen ist leerZurück zum Shop
      Versand berechnen
      Apply Coupon