Hinhören (von Michael Zimmermann, Dresden)
Ob unsere Zeit krisenhafter ist als die Vergangenheit, sei dahingestellt. Unstrittig ist die Vielzahl der Krisen, mit denen wir gegenwärtig konfrontiert sind: Klima, Hunger, Energie, Krieg, Gewalt und Spaltungen. Das alles scheint schwer zu ertragen. Es ist nicht möglich, eines zu klären, ohne beim nächsten zu landen. Das verunsichert. Die Reaktionen darauf sind unterschiedlich. Manche wenden sich einfach ab, stecken sich Stöpsel ins Ohr, verweigern Nachrichten oder lassen nur passende Informationen und Meinungen an sich heran. Andere vertrauen auf neue Schritte und bringen die Kraft für Aktionen auf.
In dieser Situation gehen wir auf die Friedensdekade zu, die nach Sicherheit fragt: „sicher nicht – oder?“. Abschottung oder Offenheit, wo ist das eine dran und wo das andere?
Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa wurde durch das Buch „Resonanz“ bekannt. In dem neuen Buch „Demokratie braucht Religion“ beschreibt er nicht nur unsere Gegenwart mit dem Begriff des „rasenden Stillstands“, sondern plädiert für eine Haltung des „hörenden Herzens“. Es reiche nicht, eine Stimme zu haben, die gehört wird, sondern es sind auch Ohren nötig, die andere Stimmen hören.
Ob das persönlich und in der Gesellschaft Sicherheit geben kann, wenn
- im Konflikt zwischen zwei Menschen oder Gruppen die eine Seite auf die andere Seite hören könnte,
- sich in Kirche und Gesellschaft nicht Abstand und Rückzug breit machen würde und im anderen nicht nur Gegner*innen gesehen werden, denen mal gesagt werden müsste, wie es richtig ist,
- die Mächtigen andere Vorschläge als Gewalt und Ab-hören hätten?
Zuhören fordert Menschen nicht nur, wenn es um grundverschiedene Meinungen geht. Es bewahrt vor Manipulation, vor Geschichtsfälschung, vor Eskalation von Konflikten und vor der Illusion, mit einem Schwarz-Weiß-Denken dem Leben gerecht zu werden. Hören meint nicht zustimmen. Hinhören kann aber die Möglichkeit für Gemeinsames schaffen.
Frieden braucht deutliche Worte, aber vor allem offene Ohren. Dafür spricht sich Hartmut Rosa aus, wenn er für „hörende Herzen“ plädiert. Angeregt für diesen Begriff wurde er vom Traum des Salomo, der uns in der Bibel (1. Kön. 3) berichtet wird.
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Michael Zimmermann, Beauftragter für Friedens- und Versöhnungsarbeit der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsensim Landesjugendpfarramt, Mitglied im Gesprächsforum der Ökumenischen FriedensDekade
August 2023