Grenzerfahrung Flucht und Migration als Herausforderung und Chance (Feb. 2015)
Von Jan Gildemeister (Geschäftsführer der AGDF)
Flucht und Migration sind keine neuen Entwicklungen, gerade in der Geschichte Deutschlands. Mancher erinnert sich an das Thema Völkerwanderung im Geschichtsunterricht, die Aufnahme von Hugenotten in Preußen, an politische Flüchtlinge vor dem Terror der Nationalisten oder die Anwerbung von “Gastarbeitern” ab den 1950er Jahren. Ursachen für Flucht und Migration liegen in Armut, Ungerechtigkeit, religiöse und ethnische Intoleranz, Kriege oder Umweltkatastrophen, aber auch in ökonomischen Anreizen.
Über 46 Millionen Menschen registrierte das UN-Flüchtlingshilfswerk 2014, davon mussten allein im ersten Halbjahr 2014 5,5 Mio. ihr Zuhause verlassen, davon 1,4 Mio. auch ihr Land. Nur sehr wenige von ihnen fanden den Weg nach Deutschland. Flüchtlinge haben Schreckliches erlebt und konnten zumeist von ihrem Hab und Gut nichts oder weniges retten; sie sind daher auf Hilfe angewiesen. Häufig können sie nicht (so bald) in ihre Heimat zurückkehren.
Für aufnehmende Länder bedeuten Flucht und auch größere Migrationsströme eine Herausforderung. Länder wie der Libanon wurden dadurch politisch und sozial (weiter) destabilisiert und finanziell und von ihrer Infrastruktur und Ökologie her an ihre Grenze gebracht. Aber selbst für reiche europäische Länder ist die (befristete) Aufnahme von Menschen aus anderen kulturellen und religiösen Kontexten eine Herausforderung. Die besteht nicht primär darin, dass die “Neuen” sich an die Mehrheitsgesellschaft anpassen müssen und eine “Willkommensstruktur” nicht nur aus humanen Gründen erforderlich ist, sondern auch um eine Integration zu fördern. Chance und zugleich notwendig ist vielmehr, dass Bestehendes und “Fremdes” zu etwas gemeinsamen Neuen wachsen – wie beispielsweise die Essenskultur in Deutschland sich in den letzten 50 Jahren radikal verändert hat. Es ist auch nicht die Frage, ob der Islam (mittlerweile) zu Deutschland gehört, sondern welche Bedeutung ihm gesellschaftlich und politisch beigemessen wird.
Gesellschaftlich bedeuten Flucht und Migration eine Grenzerfahrung: Sie bieten beispielsweise die Chance, Deutschland zu einem weltoffenen und friedensfördernden Land weiter zu entwickeln. Vielfalt bereichert nicht nur unsere Speisekarte. Und zugleich sind sie eine Herausforderung. Zuwanderende bringen eine andere Kultur mit. Sie eignen sich als Feindbild – auch um von anderen Problemen und deren Ursachen abzulenken. Und zugleich zeigen beispielsweise die Gewalt gegen Muslimen und Juden sowie der islamistische Terror in Frankreich, dass sie ein Konfliktpotential darstellen – auch angesichts einer immer weiter zunehmenden Globalisierung. Polizeistaatliche Mittel sind ungeeignet, dies zu verhindern – bestenfalls können sie es begrenzen. Entscheidend ist vielmehr, dass die Gesellschaft – auch Religionsgemeinschaften – sich offensiv mit dem Thema auseinandersetzen und die Chancen betonen, ohne die Herausforderung zu banalisieren. Denn es wäre falsch zu ignorieren, dass für westlich geprägte Menschen die Burka oder generell ein anders geprägtes Verhältnis zwischen den Geschlechtern befremdlich ist. Verständnis, Toleranz und Akzeptanz für die Verschiedenheit von kulturellen oder religiösen Gepflogenheiten sind auf beiden Seiten notwendig, aber es gibt auch Grenzen und Regeln, die akzeptiert werden müssen. So muss Gewalt – ob kulturell (z.B.”Fehdemorde”) oder fremdenfeindlich bedingt – konsequent geahndet werden.
Wer sich mit den Ursachen von Flucht beschäftigt, stößt unweigerlich auf die Frage, was wir damit zu tun haben. Die Antwort ist: erschreckend viel. Kleinwaffen aus Deutschland sind ein Exportschlager: Sie sind sehr geeignet zum Einsatz gegen die eigene Bevölkerung und in (Bürger-) Kriegen. Lebensmittelexporte aus der EU zerstören die subsidiäre Landwirtschaft in vielen Ländern und nehmen vielen Menschen die materielle Grundlage. Ungerechte Weltwirtschafts- und Handelsstrukturen halten Länder arm und berauben gerade jungen Menschen ihrer wirtschaftlichen Perspektive. Wie Untersuchungen zeigen, profitiert die deutsche Wirtschaft selbst von jedem Euro, der in die Entwicklungshilfe geht. Die Aufrechterhaltung unseres hohen Lebensstandards führt u.a. zur Ausbeutung von Rohstoffen und zur Umweltzerstörung. Es ist absehbar, dass die Zahl der sog. Klimaflüchtlinge in den nächsten Jahrzehnten rapide steigen wird. Notwendig sind daher radikale Veränderungen, damit die Zahl der Flüchtlinge nicht weiter wächst, sondern sinkt; sowohl auf der persönlichen Ebene, wie in der Politik und Wirtschaft.
Kirchen oder kirchlich Aktive engagieren sich bereits auf verschiedenen Ebenen: Sie protestieren gegen staatliche Willkür gegenüber Flüchtlingen und für ein liberales Asylrecht. Immer mehr Kirchengemeinden gewähren Flüchtlingen ein sog. Kirchenasyl, um sie vor einer Abschiebung in ein (Heimat-) Land zu bewahren, in dem ihnen Gewalt und Verfolgung drohen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft gegen Rechtsextremismus tritt gegen Fremdenfeindlichkeit – ob unter Christ/innen, in der Gesellschaft oder staatlichen Organen – ein. Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen sorgen sich um Flüchtlinge und setzen sich generell für die Würde von den Schwachen ein. Der interreligiöse Dialog bis hin zu gemeinsamer Friedensarbeit wird gefördert. Und auch die Ursachen für Flucht sind im Blick: Ob im Einsatz gegen ungerechte Strukturen oder durch die Förderung von konkreten Projekten und (kirchlichen und zivilgesellschaftlichen) Initiativen für mehr Frieden und Gerechtigkeit vor Ort. Dabei sind auch Mitglieder der AGDF auf den unterschiedlichen Ebenen (mit) engagiert. Von der Bekämpfung von Fluchtursachen wie Rüstungsexporten, über den Einsatz gegen Rassismus bis hin zur Förderung von einem interkulturellen Verständigung.
Migration wird es immer geben, Deutschland ist angesichts der demographischen Entwicklung auf eine Zuwanderung angewiesen. Die Ursachen für Flucht müssen bekämpft werden, zugleich muss leider davon ausgegangen werden, dass die Zahl der Flüchtlinge sehr hoch bleiben wird. Eine Abschottung mit Gewalt – beispielsweise der EU-Außengrenzen – ist menschenfeindlich. Entscheidend ist daher, wie Staat und Gesellschaft auf Flucht und Migration reagieren. Wir alle können einen Beitrag dazu leisten, dass Herausforderungen bewältigt und Chancen zu einer positiven gesellschaftlichen Entwicklung Deutschlands genutzt werden.