Das Motto der diesjährigen Ökumenischen FriedensDekade erschließt sich nicht sofort, vielmehr mag es den einen oder die andere zunächst irritieren. Und das ist mit dem Motto auch beabsichtigt; es soll zum Nachdenken anregen. Es spielt mit den drei Worten Reich – Weite – Frieden und nutzt zudem einen Begriff, der aus den Natur- und empirischen Sozialwissenschaften bekannt ist: Reichweite. Was also verbirgt sich hinter dem Motto „Reichweite Frieden“?
Das Reich Gottes steht im Kontrast zu dem, was wir oftmals als Ergebnis des menschlichen Handelns erleben müssen. Und zugleich ist der Frieden Gottes trotz bewaffneter Gewalt, Ungerechtigkeit, Rassismus und Zerstörung der natürlichen Umwelt bereits Realität und weltweit zu finden und aufzuspüren – wie im Himmel, so auf Erden, im Kleinen wie im Großen. Und es braucht uns und alle anderen Menschen guten Willens, damit der Frieden an (Reich-)Weite gewinnt.
Die Reichweite von Raketen, (bewaffneten) Drohnen oder Gewehrkugeln lässt sich berechnen. Es lässt sich feststellen, wo Rüstungsgüter aus Deutschland weltweit zum Einsatz kommen und welchen tödlichen Schaden sie anrichten. Auch die offensichtlichen Wirkungen von Bundeswehreinsätzen oder die Ergebnisse „technischer“ Entwicklungszusammenarbeit wie der Bau von Brunnen oder Solaranlagen sind sichtbar – die unerwünschten Folgen allerdings bleiben uns oftmals verborgen.
Aber wie lässt sich die Reichweite von Frieden oder von Friedensarbeit generell ermitteln? Frieden wird durch und für Menschen gemacht: Durch Bildungs- und Versöhnungsarbeit, durch Aufklärung und Informationsvermittlung, durch Demonstrationen, Petitionen und gewaltfreie Aktionen, aber auch durch Gottesdienste und Friedensgebete wird versucht andere zu einem Engagement für den Frieden zu bewegen.
Frieden – Schalom – umfasst dabei auch die Bewahrung der Schöpfung. Wenn wir die natürliche Umwelt respektieren und ihr den Raum geben, den sie benötigt, schützt uns dies auch vor Pandemien. Die Reichweite des Schalom beinhaltet auch Gerechtigkeit. Wenn Menschen weltweit kostenlosen Zugang zu Sozial- und Gesundheitssystemen haben, lassen sich die katastrophalen Folgen von Pandemien weitaus einfacher begrenzen.
Die Wirkung einzelner Friedensaktivitäten und Projekte lässt sich über definierte Kriterien messen: Wie viele Personen nahmen an einer Veranstaltung teil oder unterzeichneten eine Petition? Die Wirkung internationaler Freiwilligendienste, die interkulturelles, globales Lernen und Völkerverständigung fördern wollen, wurde vielfach wissenschaftlich untersucht. Es wurden positive Wirkungen bei den einzelnen Freiwilligen, ihrem sozialen Umfeld, aber auch bei den als Träger, Partner oder Einsatzstellen involvierten Organisationen festgestellt. Die Evaluation des Programms Ziviler Friedensdienst, gestartet im Jahr 1999 und getragen von neun deutschen Friedens- und Entwicklungsorganisationen gemeinsam mit lokalen Partnerorganisationen, erwies 2012 den sichtbaren Nutzen dieses Instrumentes der zivilen Konfliktbearbeitung.
Durch Evaluierungen lässt sich aber die Reichweite des Friedensengagements nicht in Gänze erfassen. Wissenschaftler*innen untersuchen im Nachgang von Konflikten, was die Ursachen für „friedliche Revolutionen“ oder das Ende eines bewaffneten Konfliktes waren. Aufgrund der Komplexität und der dynamischen Entwicklungen dieser Ereignisse sind die Schlussfolgerungen aus den Forschungsergebnissen aber in vielen Fällen eher allgemeiner Natur. Eindeutige Ursachenzuordnungen sind in der Regel nicht möglich.
Nahezu unmöglich ist es herauszufinden, ob durch spezifische Aktivitäten von sozialen Bewegungen, Organisationen oder (staatlichen) Institutionen verhindert wurde, dass ein gesellschaftlicher oder zwischenstaatlicher Konflikt nicht in Gewalt mündete, sondern friedlich geschlichtet und konstruktiv bearbeitet wurde.
Die Vorbeugung vor Krieg, sozialer Ungerechtigkeit oder Umweltverschmutzung wäre immer die beste Lösung, aber es ist leider weiterhin sehr schwierig für präventive Friedensarbeit Fördermittel zu bekommen. Auch Spenden lassen sich besser für Katastrophenhilfe sammeln als für Aktivitäten, die Krieg, Hunger oder Sturmschäden verhindern helfen. Und die Finanzierung von Militär erscheint auch deshalb so attraktiv, weil sein Einsatz auf den ersten Blick schnelle Lösungen verspricht. Aber durch militärische Gewalt lässt sich, dies wiederum zeigen Untersuchungen, langfristig kein Frieden herstellen.
Friedensarbeit zielt darum zumeist auf die Prävention von Gewalt, auf die Förderung einer Kultur des Friedens und die Ermutigung zum Friedensengagement. So soll die Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit anregen, dass aus (negativen) historischen Erfahrungen Lehren und Konsequenzen für heute gezogen werden – durch Aktivitäten gegen Rassismus, Antisemitismus oder Aufrüstung. Und drei weitere Beispiele: Durch Traumaarbeit erfahren Menschen Heilung, können den Kreislauf der Gewalt verlassen und im besten Fall ihren Täter*innen(-gruppen) vergeben. Internationale Jugendbegegnungen beugen Vorurteilen vor. Qualifizierungskurse erschließen den Teilnehmenden die Möglichkeiten gewaltfreier Konfliktbearbeitung und befähigen sie, diese Methoden in ihrer Arbeit anzuwenden.
Die Reichweite dieser und anderer vielfältiger Friedensaktivitäten lässt sich zumeist nur schwer ermitteln. Dennoch scheinen einige eher allgemeine Aussage möglich, die nachdenklich machen sollten: Christliches Friedensengagement hat dazu beigetragen, dass der Umbruch in der DDR friedlich erfolgte. Und die langjährige zivilgesellschaftliche Unterstützung und Zusammenarbeit gerade auch christlicher Initiativen ermutigte und stärkte diejenigen, die erfolgreich gegen die Apartheit in Südafrika kämpften oder die sich heute für einen gewaltfreien Wandel in Belarus einsetzen.
Der Frieden Gottes reicht weit und braucht unser menschliches Handeln, um seine Wirkung auf Erden zu entfalten. Das Motto „Reichweite Frieden“ der diesjährigen Ökumenischen FriedensDekade ist daher Hoffnung und Auftrag zugleich.
Jan Gildemeister ist Vorsitzender des Ökumenischen FriedensDekade e. V. und Geschäftsführer der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) mit Sitz in Bonn